Nahrungsergänzungsmittel: Expertise ist gefragt!
Nahrungsergänzungsmittel sollen Behandlungsergebnisse im Institut verstärken können. Experte Hans-Peter Urban empfiehlt Kosmetikerinnen und Apothekern, auch auf das persönliche Beratungsgespräch zu setzen.
Herr Urban, Sie haben Erfahrungen auf dem Gebiet der Nahrungsergänzungsmittel (NEM)?
Nun, ich habe in verschiedenen Unternehmen gearbeitet und weitere begleitet, die auch Nahrungsergänzungsmittel anbieten, insofern verfüge ich über gewisse Kenntnisse.
Was zeichnet NEM besonders aus?
Als Kind habe ich gelernt, dass Kräuter in verschiedenen Situationen hilfreich sein können, z. B. Kamille für die Haut, bei Schnupfen zum Einatmen, zum Gurgeln, wenn der Hals kratzte, als Tee bei Bauchweh. Oder denken Sie an die beruhigende Wirkung von Johanniskraut. Schon immer wurden Kräuter gepflückt und als Hausmittel verwendet. Das ist heute nicht anders, Nahrungsergänzungsmittel sind vielleicht die Fortsetzung der alten Tradition mit neuen Mitteln.
Der Umsatz von Nahrungsmittelergänzungsmitteln wird in der Schweiz nach Schätzungen von 2020 bis 2025 von 113 auf 145 Millionen Franken gestiegen. Wie würden Sie diese Steigerung, diesen Trend erklären?
Ich vermute, das kommt daher, dass überhaupt darüber gesprochen wird, egal ob nun positiv oder kritisch, die Nahrungsergänzungsmittel sind im Fokus. Damit passen sie wohl auch in den aktuellen Trend der natürlichen Gesundheit und der Selbstoptimierung.
Wie erkennt man als Apotheker oder Hautpflege-Experte wie z. B. die Kosmetikerin, dass die Produkte einer Firma seriös sind?
Das ist eine gute Frage, seriös verstehe ich als «dem Wohlbefinden dienlich». Letztlich hängt es von der Expertise und der Erfahrung der Lieferanten ab. Und darauf würde ich grossen Wert legen, da falsche oder übertriebene Heilaussagen oft schnell zu teuren Abmahnungen führen. Apotheker und Kosmetiker sollten in dieser Hinsicht so fachkompetent sein, dass sie hier auf der sicheren Seite sind.
Wer versichert mir denn, dass z. B. mein Mode-Label auf demselben Niveau auch Parfum oder Schirme herstellen kann?
Ok, Marken versuchen natürlich ihren Kunden ein breiteres Sortiment anzubieten. Wenn mein Jeans-Hersteller nun mit NEM käme, hätte ich Bedenken. Wenn Kosmetikhersteller in diesen Bereich einsteigen, und das ist ja nicht neu, dann erwarten wir einfach profundes Wissen und Erfahrung, die in das neue Sortiment einfliessen.
Von der oben erwähnten Umsatzsteigerung mit NEM haben die Versandapotheken vermutlich den Löwenanteil erwirtschaftet: Sie konnten 23,3 Prozent mehr Packungen verkaufen, die Apotheken immerhin 2,7 Prozent mehr, wohingegen der Lebensmitteleinzelhandel 1,7 Prozent weniger Packungen verkaufte. Was sagen uns diese Zahlen?
Das beeindruckende Ergebnis für die Versandapotheken kann mehrere Gründe haben: Erstens, würde ich vermuten, liegt es daran, dass sie bestimmte Produkte oft gezielt günstiger anbieten als der stationäre Handel. Zweitens kennen sie aufgrund der Daten, die sie durch das Online-Verhalten ihrer Kunden sammeln, deren aktuelle Bedürfnisse und Befindlichkeiten. Wer z. B. Grippemittel bestellt, der benötigt eventuell bestimmte NEM zur Stärkung des Wohlbefindens. Also werden diese Produkte beim Shoppen eingeblendet und angeboten. Ist der Mindestbestellwert für kostenfreie Lieferungen noch nicht erreicht, wandern solche Sekundärprodukte gerne und schnell zusätzlich in den Warenkorb. Für den Lebensmitteleinzelhandel dagegen sind NEM wohl eher eine übliche Sortimentsergänzung, die «man auch anbietet», ohne sie besonders intensiv zu bewerben.
Welchen Wert hat dann noch die Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, sei es zwischen Apotheker und Kunde oder zwischen Kosmetikerin und Kunde? Warum analog, wenn digital wirtschaftlich so gut funktioniert?
Ja, das ist die Gretchenfrage: Warum sollte der Handel sich noch Verkäufer leisten, wenn Kunden sowieso «alles» online kaufen bzw. im Geschäft die Selbstbedienung bis hin zur Kasse von uns Kunden selbst abgewickelt wird. Die Antwort ist ebenso einfach wie anspruchsvoll in der Umsetzung. Wenn wir als Kunden einkaufen, dann wollen wir einfach gut beraten werden, wir wollen, dass Menschen uns diesen Moment zu einem besonderen Erlebnis gestalten, wir erwarten besonderen Service und Kompetenz. Insbesondere dann, wenn es um persönliche, diskrete Themen geht – dazu gehören Gesundheit und Wohlbefinden – können gut ausgebildete Verkäufer ein echter Segen sein. Dabei hilft mir sicher auch das Internet, um eine Idee zu bekommen, welche Kosmetik, welches Kraut meinem Hauttyp oder meinem Körper gerade guttun könnten.
Ich persönlich recherchiere nahezu alle wichtigen Informationen zuerst online, dafür ist das Internet die perfekte Plattform. Letztendlich verlasse ich mich aber, wenn es wichtig ist, auf die Kompetenz des Experten meines Vertrauens. Und das wird auch in Zukunft so bleiben. Voraussetzung dafür ist, dass es die Experten richtig anstellen, sich digital aufstellen und für uns Kunden da sind, wenn wir Rat und Hilfe benötigen.
Also: Wir sind als Kunden (fast) alle digital unterwegs, am PC, am Laptop oder meistens mobil per Smartphone – und wir shoppen, was die Kreditkarte hergibt, weil es bequem, einfach und sicher ist, Dinge, die wir benötigen 24/7 einzukaufen, wenn es passt. Und der Trend ist noch am Anfang. Wer will denn zukünftig noch Windeln, Toilettenpapier, Socken oder Wasser einkaufen und nach Hause schleppen, wenn das auch per digitalem Assistenten automatisch geht? Dafür müssen wir uns nicht umständlich deplatzieren, Schlangen bilden und persönliche Gespräche mit gestressten Verkäufern führen. Es sind die Momente des Einkaufs, wenn wir besondere Produkte und Leistungen suchen – da zählen persönliche Beratung und das individuelle Gespräch.
Was heisst das für den Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln in der Apotheke oder bei der Kosmetikerin?
Meiner Meinung nach sind sich weder Mitarbeiterinnen im Institut noch in der Apotheke bewusst, welche bedeutende Rolle sie insbesondere in Zeiten der Digitalisierung im Kundenservice spielen. Wo treffen wir denn heute noch auf Menschen, wenn wir Produkte oder Service einkaufen? In aller Regel bauen mittlerweile alle Branchen auf Selbstbedienung, und somit teures Personal ab. Wo also treffen wir «Personal»? Ok, beim Friseur, da geht es aufgrund der öffentlichen Situation im Kundengespräch eher nicht um intime Dinge, beim Steuerberater und Rechtsanwalt geht es meist um knallharte Fakten. Und beim Arzt, naja, Zeit für persönliche Gespräche ist kassenseitig erst gar nicht vorgesehen. Also wer bleibt denn noch übrig? Wer hört uns zu bzw. kümmert sich denn um uns? Digitalisierung hin oder her, wenn es uns an und unter die Haut geht, ist die Kosmetikerin gefragt. Das muss sie erkennen und nutzen.
Würden Sie im kosmetischen Umfeld zum Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln raten? Und wie würden Sie dann vorgehen?
Wie wir gerade festgestellt haben, ist das Kosmetikinstitut im Grunde genommen der Ort für Pflege und Wellness und zugleich ein Ort des Handels. Eines ist klar: Mit Dienstleistungen allein kann die Kosmetikerin nicht unendlich wachsen. Ihre Zeit ist begrenzt. Sie muss wirtschaftlich denken und neben den Behandlungen Pflegeprodukte verkaufen, das ist die Sahne auf dem Ergebnis ihrer Arbeit. Und wenn es passende NEM gibt, dann wäre sie doch «ver-rückt», dieses Instrument der Kundenbindung und ihrer Einkommenssicherung liegen zu lassen.
Welche NEM würden Sie wo anbieten – welche in der Apotheke und welche im Kosmetikinstitut? Welche werden wo erwartet – mit entsprechender Expertise?
Die ureigene Fachkompetenz ist in der Apotheke eine andere als die im Kosmetikinstitut. Das heisst nicht, dass es nicht an beiden Orten gute Beratung geben kann. Persönlich würde ich eher in der Apotheke eine breitere und tiefere Expertise erwarten, wobei ich selbst einige spezialisierte Kosmetikerinnen kenne, die – gerade auch auf dem Gebiet der Naturkosmetik – sehr kompetent sind. Im Institut, wo es um unsere Hautpflege, um Schönheit, Frische, Wellness und Vitalität geht, erwarte ich eher dazu passende NEM, eben zur Steigerung der berühmten «Schönheit von innen».
Das Wissen scheint immer komplexer zu werden, hat sich auch der Verkauf in seinen Anforderungen verändert?
Ja, er ist eine echte Herausforderung für die Verkäufer, denen der digitale Wandel zusetzt. Reichte es früher oft mit wenigen Argumenten den Nutzen eines Produktes zu erklären, sehen sich Fachfrauen heute einer Kundschaft gegenüber, die mit einem breiten Halbwissen über Marken, Produkte und Inhaltsstoffe in das Beratungsgespräch kommen. Kosmetikerinnen müssen heute nicht nur das eigene Alleinstellungsmerkmal, den Benefit der eigenen Produkte erklären, sondern dies auch gegenüber anderen Marken, die womöglich preiswerter scheinen, wo sie oft einfach nur billiger sind. Hier ist sowohl bei der Kosmetikerin als auch der pharmazeutisch-technischen Assistentin in der Apotheke verkäuferisches Talent gefragt. Breites Fachwissen gehört dazu, ist quasi die Voraussetzung. Aber genauso wichtig ist es zuhören zu können – am besten «doppelt» zuhören und nur «einfach» selbst sprechen. Bei Verkäufern sind alle fünf Sinne gefragt, um herauszufinden, worum es der Kundin geht, was sie begeistert und was sie flasht. Das setzt kommunikatives Expertenwissen voraus. Wer das Verkaufsgespräch souverän beherrscht, der wird seinen Kunden nie das Gefühl geben «etwas aufschwatzen zu wollen». Die Kunst der Kommunikation ist in erster Linie, wie Kosmetik ebenfalls, ein Handwerk. Und Handwerk ist erlernbar.
Wie sollte die Kosmetikerin für ihr neues Angebot von NEM werben?
Wichtig dabei ist das Verständnis für Kundenkontakt in digitalen Zeiten. Klar gehören dazu die eigene Homepage und Social-Media-Aktivitäten. Werbung für Produkte ist die eine Sache. Die Kosmetikerin selbst muss sich klar darüber sein, dass es auch um sie ganz persönlich geht. Die Kundin achtet auf die Eigenwerbung der Kosmetikerin. Sie sucht das Institut nach den Menschen aus, die sie an sich heranlässt, die Chemie muss stimmen, es muss menschlich passen. Also, neue Produkte im Kosmetikinstitut sind auch immer mit der Story der Kosmetikerin dahinter verbunden. Warum bietet sie dieses Produkt an? Warum jetzt? Aufgrund welcher Erfahrung, welcher Erlebnisse? Das ist die Art der Werbung, die heute ankommt. Die Kundin will auf die Reise mit diesen neuen Produkten abgeholt und mitgenommen werden. Digitale Assistenten helfen der Kosmetikerin dabei, den Kontakt zu ihren Kundinnen 24/7 zu halten. Wenn die Neuigkeit dann online gestellt wird, wenn die Zielgruppe auch online ist, dann wird es auch sofort gelesen. An Neuheiten interessierte Kundinnen werden sofort einen Termin buchen wollen, mithilfe von digitalen Assistenten gar kein Problem, auch nachts eine Reservierung zu buchen, während die Kosmetikerin selbst schläft. Auch die Apotheke kommt heute ohne eine eigene Digitalstrategie nicht mehr aus. Cross- und Up-Selling ist mittlerweile auch in der Apotheke üblich, online wird das auch nach Geschäftsschluss fortgesetzt. Mittlerweile sind virtuelle Regale so perfekt gesteuert, dass sie genau die Produkte zeigen, die Kunden aktuell nachfragen werden. Das liest sich für Digitalabstinenzler etwas «spooky», also ziemlich gruselig, bietet aber ganz praktische Vorteile für alle Beteiligten.
Wer diese Möglichkeiten zu Ende denkt, fühlt sich als Kunde aber auch dauerkontrolliert und -beobachtet, oder?
Ja, klar, das ist schon immer so gewesen mit dem Fortschritt. Die einen sind dankbar, die anderen fürchten sich davor. Fragen Sie Ihre Kinder doch, wie sie das Smartphone finden. Falls sie Ihre Frage überhaupt verstehen, dann wird die Antwort so ähnlich wie «unentbehrlich» lauten, begleitet von Kopfschütteln. Fortschritt ist in erster Linie nicht für die Alten von heute gemacht, obwohl viele von den neuen Services profitieren. Wenn alten Menschen (wer immer das auch ist) analoges Fernsehen genügt, werden sie dennoch dankbar sein für den digitalen Notfallknopf, der ihnen im Notfall das Leben rettet. Und wenn diese Menschen mit ihren Enkeln skypen können, die sie sonst aufgrund grosser Entfernungen kaum sehen würden, dann ist Fortschritt etwas sehr Positives. Klar ist, diese neue Freiheit gibt es nicht umsonst. Den Preis dafür bezahlen wir auch mit unseren Daten. Damit angemessen umzugehen ist auch eine Frage der politischen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen. Die müssen geschaffen werden und verlässlich sein. Dann ist die Digitalisierung in Bezug auf Service, Bequemlichkeit, Einfachheit und Sicherheit ein echter Fortschritt.
Hans-Peter Urban ist seit über 30 Jahren im Vertrieb tätig. Nach Ausbildung und Studium (Ingenieurswesen und Internationales Marketing) startete er als Verkäufer für Investitionsgüter, wurde Vertriebsleiter in der Konsumgüterindustrie und war Geschäftsführer in verschiedenen französischen Kosmetik-Unternehmen. Nach dem Erwerb seiner Trainerlizenz gründete er 2009 «Urbantraining» (www.urbantraining.de, kontakt@urbantraining.de), um sein Wissen als Spezialist für Verkaufs- und Kommunikationstrainings weiterzugeben
Text: Waltraud Ellerich-Minareci, Hans-Peter Urban
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