Vorstoss in neue Welten
Virtual Reality liegt im Trend, das belegen steigende Umsatzzahlen aus der Industrie. Gerade in Corona-Zeiten bietet diese zukunftsweisende Technologie auch im Wellness-Bereich ganz neue Möglichkeiten, berührungslos zu tiefer Entspannung zu gelangen. Elektrische Massagesessel in Kombination mit VR-Brillen sind erst der Anfang.
«Virtual Reality ist die Wellness-Zukunft », verkünden Experten immer wieder. Auf Reiseportalen werden virtuelle Erkundungen von Hotel-Spas «wie in echt» angeboten, entspannende Wellness- Liegen sollen mit VR-Brille intensiver wirken. Seit etwa zwei Jahren öffnen auch in der Schweiz vereinzelt Wellness-Studios, die mithilfe klobiger, überdimensionaler Brillen intensive Entspannung versprechen. Wie funktioniert das und was bringt es?
Die Welt des schönen Scheins
Virtuelle Wirklichkeit entsteht, indem ein Bild jeweils hälftig geteilt und im Gehirn wieder zusammengesetzt wird. Minimale perspektivische Unterschiede erzeugen einen 3-DEffekt. Die künstliche Bildwelt erscheint real. Notwendig für eine VR-Brille ist ein lichtundurchlässiges Gehäuse mit einem oder zwei Bildschirmen und zwei Linsen. Üblicherweise wird dieses Gestell wie eine Taucherbrille am Kopf fixiert. Einfache Cardboards, in denen das eigene Smartphone eingespannt wird, kosten nur wenige Euro und geben einen annähernden Einblick, in welchen aktiven oder passiven Wellness-Status hochwertige Technik versetzen kann. Ein Begriff taucht hierbei immer wieder auf: Immersion. «Das bedeutet, das Hirn akzeptiert das Bild durch die Brille und das Gesehene wird als echt empfunden», so Michael Biber, CEO und Cheftechnologe des auf VR-Beratung und Programmierung spezialisierten Unternehmens new direction.
Die einfachste Form der VR-Reise eröffnet einen Panorama-Rundblick von einem Fixpunkt aus. Bewegungen des Trägers nach vorne und hinten, unten oder oben werden nicht übernommen. Einige Film-Apps bieten das «Hüpfen» zu festen Punkten an. Hier können, so wie bei Wohnungsbesichtigungen online, Stellen gekennzeichnet sein, von denen aus ein Rundumblick möglich ist.
Die raffiniertere VR-Ansicht «geht mit», wenn sich der Brillenträger bewegt. Alles wird dadurch realistischer. Während einige Varianten Controller benötigen, kann bei anderen der intensive Blick auf einen Punkt schon Bewegung ermöglichen. Auch Körperbewegungen können steuern, ebenso die von einer Kamera aufgenommenen und in die virtuelle Welt mitgebrachten eigenen Hände. Selbst ein Übertragen virtueller Welten auf Grossbildleinwände ist möglich, was im Bereich Wellness & Spa Atmosphäre schafft.
VR-Brillen: von simpel bis raffiniert
Ein Klappgestell für das übliche Smartphone bildet die simpelste Stufe einer VR-Brille. Quer gelagert vor den Augen werden 360°-Filme geschaut. «Ein Smartphone hat eine niedrigere Bildwiederholrate, ein guter Fernseher mindestens 100 Hertz», so Michael Biber. «Damit ein VR-Erlebnis real wird, sind mindestens 90 Bilder pro Sekunde notwendig.» Für einen Einblick in die virtuelle Welt reichen Smartphone und Cardboard jedoch aus.
Die zweite Stufe von VR-Brillen, wie die gerade erschienene Oculus Quest 2, besitzt einen eingebauten Prozessor. Dadurch werden Kabel unnötig. Momentan ist die Rechen-Power dieser Brillen begrenzt. Trotzdem besitzen sie eine qualitativ hohe Bildrate und Auflösung, was virtuelle Erlebnisse vertieft. Bewegungen in alle sechs Richtungen – auch «Six degrees of freedom» genannt - sind möglich. Die Brille «geht mit», wenn der Träger sich bewegt.
Die dritte Brillenart ist mit einem Rechner verbunden, meist noch über Kabel. Mit ihr ist ein freies Bewegen im Raum möglich – und fantastische VR-Erlebnisse. Beispiel für diese Art von VR-Technik sind die Oculus Rift und die HTC Vive. «Wenn ich virtuell am Strand bin und eine Möwe angeflogen kommt, erschrecke ich mich wirklich. In Verbindung ›› ›› mit Kopfhörern habe ich ein unglaublich tolles virtuelles Erlebnis», so Spezialist Biber. Diese Brillen arbeiten mit künstlicher Intelligenz, beziehen detailliert Standorte ein und kosten daher einige hundert Euro.
Controller bilden wie bei einem Videospiel die Basis für Interaktionen. Die nächsthöhere Stufe umfasst zwei Stäbe mit Druckpunkten, die intuitiv bedient werden. Andererseits besteht die Möglichkeit, nur durch Verharren des Blicks auf einem bestimmten Punkt die App zu steuern. So könnte man sich, wenn man lange genug auf eine Liege am Pool blickt, virtuell nähern und darauflegen. Modernste Fassungen kommen ohne Controller aus. Hierbei sind die eigenen Hände im Blickpunkt. Deren Reaktionen beeinflussen die Bewegungsrichtungen in der virtuellen Welt. Auch Handschuhe als Zusatzausrüstung können zur Steuerung der App genutzt werden; eine Fingerbewegung ersetzt den Controller. Andersherum funktioniert es noch nicht, sodass z. B. warmes Wasser oder die Konsistenz eines pflegenden Öls nicht gefühlt werden kann.
Auf digitaler Reise
Das Liegen am Strand, während ein Massagesessel Beine und Rücken bearbeitet, erscheint hingegen real. Auch laden Unterwasser-Taucherlebnisse oder weite Landschaften zur passiven Entspannung ein. In wenigen Spas und Wellness-Hotels hat VR schon Einzug gehalten. Ausstatter ist u. a. die bayerische Firma Icaros, die sich VR in Verbindung mit aktiver Wellness widmet. «Durch eigene Muskelkraft werden Balance, Koordination und Ausdauer trainiert, während man z. B. im Gleitflug über die schneebedeckten Engadiner Alpen schwebt oder durch Strassen jagt», so Marketing Manager Markus Krach. Auf verschiedenen halbschalenartigen Geräten wird – auch bereits in Wellness-Bereichen – durch eigene Körperbewegungen die digitale Reise gesteuert. «Es ist wie Fliegen, und man merkt nicht, wie anstrengend es eigentlich ist. Erst danach spürt man jeden Muskel, ist aber total entspannt.» Die Kosten für diese interaktiven Wellness- Geräte beginnen für den Privatbereich bei rund 1’500, für die professionelle Nutzung bei 10’000 Franken. Die aufwendigen App-Produktionen gibt es hier dazu, eine Einzelanfertigung auf Wunsch ist mit höheren Kosten verbunden.
Apps für angenehme Erlebnisse
Theoretisch kann jedes Kosmetikinstitut und Spa ein eigenes VR-Video drehen, um gerade jetzt guten Gästen weiterhin etwas Erholung zu bieten. «Das Problem besteht darin, diese Filme in Apps umzuwandeln, um dem Benutzer ein angenehmes Erlebnis zu ermöglichen. Ohne App bietet ein Film keine qualitativ hochwertige Erfahrung für den Benutzer einer VR-Brille», so Michael Biber von new direction. Die Produktionskosten eines eigenen VR-Videos beginnen bei etwa 1500 Franken. Eine interaktive App mit eigenen Erlebniswelten erzeugt schnell Entwicklungskosten im sechsstelligen Bereich.
m Wellness-Bereich werden VR-Ausflüge meist nur im Zusammenhang mit Massagesesseln und ohne manuelles Treatment angeboten. Dabei sind sowohl das eigene Fühlen als auch das Berührt werden durch jemand anderen wichtiger Teil von Spa-Anwendungen. Etwas Ventilatoren-Luft an den Füssen erzeugt zwar bei entsprechender VR-App das Gefühl einer frischen Meeresbrise, ein herkömmliches händisches Treatment am Körper wird bisher in Verbindung mit dieser Technologie aber nicht angeboten. Auch haben die Spezial-Handschuhe kein Fühlvermögen. Diese fehlenden Sinneserfahrungen schränken die Möglichkeiten bisher noch ein.
Obwohl Virtual Reality immer wieder als DER Trend in Kosmetik und Wellness ausgerufen wird, steckt alles noch in den Kinderschuhen und wird nur selten angeboten. Durch die meist personalfreien Anwendungen bleiben die Kosten niedrig, abgesehen von der Anschaffung der entsprechenden Tools. Nutzer bemängeln bisweilen das Gewicht der Brille, das tiefer Entspannung entgegenstünde. Hierzu Cheftechnologe Michael Biber: «Eine gute App lässt sehr schnell in die virtuelle Welt abtauchen, sodass das Gewicht nicht mehr wahrgenommen wird.» Aber Wellness lebt von ganzheitlicher Berührung. Die Entwicklung hin zur Einbindung unterstützender Technologien steht erst am Anfang.
Cornelia Klammt war als Redakteurin und Autorin für ARD, ZDF und RTL tätig, bevor sie Kosmetik, Massagen und Spa-Management lernte und in verschiedenen Spas arbeitete. Heute unterstützt sie Wellness- Anbieter und Kosmetikunternehmen bei der Öffentlichkeitsarbeit.
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Text: Cornelia Klammt
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