Achtsam behandeln
Diagnosen dürfen Sie als Spa-Therapist oder Beauty-Profi zwar nicht stellen. Aber mit einem geschulten Auge können Sie Schwachstellen der Kunden erkennen und ihnen somit zielgerichteter helfen.
Diagnosen zu stellen ist in Deutschland Ärzten und Heilpraktikern vorbehalten. Gleichwohl ist es in jedem Beruf, bei dem ein Dienst am Menschen geleistet wird, nützlich, acht- und sorgsam beobachtend mit Kunden umzugehen. Das gilt besonders im Spa, denn hier ist die Grenze zwischen Pflege und Medizin oft nicht ganz klar und deutlich sichtbar. Der achtsame Blick kann uns erste Hinweise auf die Befindlichkeit eines Kunden geben. Er liefert die Basis für eine bessere Behandlungsqualität. Was wir primär wahrnehmen können, sind Stimme und Redeweise, Körperhaltung und Bewegung, Händedruck und Blick. All das sagt schon einiges über den Menschen aus. Wir sollten uns aber davor hüten, allzu schnell zu urteilen und jemanden voreilig in Schubladen zu stecken.
Mit warmem Händedruck
Wichtig ist, einen Menschen ohne Vorbehalte mit wohlwollenden Gefühlen zu begrüssen. Denn was wir ausstrahlen, kommt oftmals auch auf uns zurück. Schauen Sie Ihrer Kundin mit freundlichem Blick in die Augen, hören Sie ihr aufmerksam zu, nehmen Sie die individuelle Wirkung des ersten Blickkontakts wahr. Bedenken Sie: Der erste Eindruck ist für beide Seiten prägend. Begrüssen Sie die Kundin mit einem warmen, freundlichen Händedruck und spüren Sie intensiv, wie sich deren Hand anfühlt. Diese ersten Wahrnehmungen sagen schon eine ganze Menge über den betreffenden Menschen und sein aktuelles Befinden aus. Und mit der Zeit und viel achtsamer Übung kann man so viel über sich selbst und die Menschen im Allgemeinen lernen. Wenn Sie sich schon bei der Begrüssung aufmerksam und zugewandt verhalten, kann daraus eine Vertrauensbasis erwachsen, die wertvoll ist für eine gute, effektive, ganzheitliche Behandlung. In diesen ersten Augenblicken kann das Vorgespräch schon zielgerichtet sein, wenn Sie die Wünsche der Kundin gut einschätzen und die entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten anbieten können. Die Zeit, die Sie aufwenden müssen, um diese Vertrauensbasis zu schaffen, zahlt sich auf jeden Fall aus, weil sie der Kundenbindung förderlich ist.
Alle Sinne gebrauchen
Nonverbale Signale versteht fast jeder ganz schnell. Und jeder reagiert darauf gemäss seiner eigenen inneren Struktur. Deshalb ist auch die tägliche Selbstreflexion sehr wichtig. Denn sie zeigt uns, ob wir objektiv sind oder nur auf irgendwelche Reize reagieren. Meist wissen wir im Umgang mit anderen schon in den ersten Sekunden, ob wir einander sympathisch sind oder nicht. Auch die Stimme eines Menschen, seine Redeweise und Sprachmelodie, haben eine wechselseitige Wirkung. Die ersten Wahrnehmungen beziehen auch den individuellen Geruch mit ein. Nicht umsonst sagt man «Den kann ich nicht riechen», wenn man jemanden nicht mag.
Für Menschen in Dienstleistungsberufen ist die bewusste Wahrnehmung all dieser Eindrücke wesentlich dafür, sich ein objektives, ehrliches Bild vom Kunden machen zu können. Es geht nicht darum, ob uns die Stimme, Redeweise, der Blick oder Händedruck eines Menschen oder gar er selbst gefallen, sondern um die Einschätzung, was er will oder von uns braucht. Hier ein Beispiel: Spricht ein Mensch sehr leise, ist sein Blick ängstlich und unstet und sein Händedruck weich, feuchtkalt und schwammig, dann kann dies Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein, aber auch Krankheiten anzeigen. Wir brauchen darüber keine Details zu wissen, wir sollten der Person dann einfach nur besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung schenken. Ebenso kann auch ein allzu forsches Auftreten mit den entsprechenden Indikatoren dem aufmerksamen Beobachter starke Unsicherheit signalisieren. Auch dann ist freundliche Zuwendung und nicht innere Ablehnung geboten.
Die Zeichen zu deuten wissen
Weitere deutliche Signale senden die Körperhaltung und die individuellen Bewegungsabläufe. Körperhaltung und -sprache bilden zusammen eine Primärsprache, die ohne Worte auskommt. Jeder Arzt oder Heilpraktiker, der offen dafür ist, kann darin wichtige Hinweise für die Diagnose erkennen. Auch für Spa-Behandler ist das Wissen um diese Zeichen hilfreich, um einen Zugang zum Kunden zu finden. Es sagt eine ganze Menge über einen Menschen aus, wie er seinen Kopf hält, ob er aufrecht steht und wie er sich einem anderen zuwendet.
In der Bioenergetik nach Alexander Lowen lernt man, dass die Art, wie ein Mensch geht und steht, seine innere Haltung spiegelt, seine Standpunkte, sein Selbstbewusstsein, seine frühkindliche Entwicklung sowie daraus resultierende Blockaden, die teilweise auch Auskunft über gesundheitliche Aspekte geben. Steht etwa ein Mensch aufrecht und fest auf beiden Beinen, dann wird er auch seine «Standpunkte» fest und vernünftig vertreten. Lässt er seinen Kopf und die Schultern nach vorn hängen und fällt es ihm schwer, den Nacken nach hinten zu beugen, dann kann das von tiefer Traurigkeit zeugen und von der Angst zu vertrauen. Es kann auch eine gewisse innere Unbeweglichkeit bis hin zur Halsstarrigkeit andeuten.
Eine Frage der Haltung
Die Haltung des Oberkörpers zeigt, wie offen der Betreffende für seine Mitmenschen ist und wie er mit seinen Gefühlen umgeht. Ausserdem beeinflusst die Haltung des Brustkorbs in hohem Masse die Atmung und prägt die Ausstrahlung eines Menschen stark. Ein anderes Kriterium ist die Sitzhaltung. Sie zeigt auf, wie wir uns unserem Gegenüber zuwenden, was wiederum das aktuelle Befinden und das soziale Verhalten des Gegenübers spiegelt. Auch die Gestik von Armen und Händen sowie die Fussstellung können vieles ausdrücken. Man sagt nicht von ungefähr: «Der spricht mit Händen und Füssen.» Dies sind nur einige Beispiele, aber es lohnt sich, darüber nachzudenken und mehr darüber zu lernen.
Bei kosmetischen oder physiotherapeutischen Behandlungen sind wir über einen längeren Zeitraum im direkten Kontakt mit den Kunden und können unsere Aufmerksamkeit und achtsame Beobachtung für ihr Wohlbefinden nutzen. Sowohl der achtsam diagnostische Blick als auch ein sensibler Tastbefund sind dabei relevant. Kennt man die Reflexzonen an den Füssen nach Eunice D. Ingham und Dr. William H. Fitzgerald, die am Rücken nach Hede Teirich-Leube und die sogenannten Head-Zonen nach Dr. Henry Head, dann kann man viel über die Gesundheit eines Menschen erfahren. Das gibt uns zwar nicht die Kompetenz, demgemäss zu behandeln, aber wir können dann etwa bei Körpermassagen entsprechend behutsam mit den Kunden umgehen. Und mit der gleichen Behutsamkeit könnten wir eventuell bei sichtbaren, pathogenen Zeichen und Hautschäden den zuständigen Arzt empfehlen. Aber Vorsicht! Es wäre fatal, etwa bei einem Nierenindikator zu sagen: «Sie sind nierenkrank, Sie müssen unbedingt zu einem Facharzt.»
Gesicht und Körper lesen
Manche pathogenen Zustände manifestieren sich in Dellen in der Haut, Verhärtungen und Verfärbungen. Ein sensibler Tastbefund zeigt uns dazu Störungen und Disharmonien an, etwa wenn der Kunde druck- und schmerzempfindlich reagiert. Konsistenz und Temperatur des Gewebes können ebenfalls aussagekräftig sein. Auch Spa-Behandler und Kosmetikerinnen können lernen, die Signale von Gesicht und Körper zu erkennen – und dieses Wissen dann zum Wohl der ihnen anvertrauten Menschen einsetzen. Sie wissen dann, wie sie individuell auf eine Kundin eingehen und was sie gezielt an Behandlungen anbieten können. Und sie wissen auch, wann es klug ist, zu reden oder besser zu schweigen.
Wer sich vorwiegend mit Gesichtsbehandlungen beschäftigt, der sollte auch einiges über Physiognomik und Pathophysiognomik lernen. Besonders die Traditionelle Chinesische Medizin befasst sich diagnostisch u. a. mit dem Gesicht des Menschen und deutet Tränensäcke, Furchen, Falten oder Hautfarbe und -beschaffenheit als physiognomische Zeichen. Es gibt bestimmte Gesichtsregionen, die in Korrelation zu einzelnen Organen und deren Funktionen stehen. So kann etwa eine besondere, krankhaft wirkende Blässe auf Durchblutungsstörungen hinweisen, aber auch auf Anämie (Blutarmut) und niedrigen Blutdruck. Bläuliche Lippen und Ohrläppchen sowie starke Veränderungen der Nasolabialfalten, auffallende Blässe rund um den Mund und eine ständig gerötete Nasenspitze können Störungen im Herz-Kreislauf-System aufzeigen oder eine Disharmonie des Blutzuckerspiegels. Eingerissene Mundwinkel können auf Störungen im Bereich des Zwölffingerdarms hinweisen, starke Akne am Kinn auf Hormonstörungen sowie Magen- und Darmprobleme. Stark hervorquellende Augen sind häufig ein Indikator für Schilddrüsendysfunktionen und einen ausgeprägten Vitamin-B-Mangel. Auf Letzteres deuten auch gereizte und juckende Augenwinkel hin. Eine Nierenschwäche oder Krankheiten dieses Organs können sich in Tränensäcken manifestieren.
«Face-Reading» zum Wohle der Kunden ist ethisch nicht bedenklich. Schliesslich geht es dabei nicht darum, die Schwächen von Mitmenschen offenzulegen und anzuprangern, sondern darum, Bedürfnisse richtig wahrzunehmen, um jemanden angemessen behandeln zu können.
Falten erzählen vom Leben
Die Falten im Gesicht eines Menschen sind wie eine Chronik seines Lebens. Dies gilt vor allem um die Zeichnungen an Mund und Augen, zeigt doch der Mund unsere innersten Bedürfnisse, und die Augen sind das «Fenster der Seele». Sie geben preis, welche Gedanken und Gefühle im Verlauf eines Lebens vorgeherrscht haben. Einen Menschen auf diese Weise zu «erkennen», bedeutet Menschenliebe und Zuwendung.
Ein liebevoller, achtsamer Blick ist die Grundlage für einen ehrlichen Umgang miteinander, er ist Basis für körperliche und seelische Heilung und in der professionellen Dienstleistungskosmetik wie auch im Spa hilfreich für das passende Angebot und die effektive, individuelle Behandlung. All dies fördert letztlich eine langjährige, vertrauensvolle Beziehung zum Kunden.
Autorin:
Henny Ladwig schreibt seit über 20 Jahren für Fachjournale im Bereich Kosmetik und Wellness. Sie unterrichtete Sport an einem Gymnasium, Elektrotherapie an einer Physiotherapie-Fachschule und betrieb lange eine eigene Schönheitsfarm sowie eine Praxis für Physiotherapie.
Text: Henny Ladwig
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