Algen – Wunderwaffen
Das Meer macht schön: Forschung und Wissenschaft setzen immer mehr auf marine Wirkstoffe. Ganz vorne mit dabei sind Algen, die äusserst vielseitig eingesetzt werden können und aus der Kosmetik nicht mehr wegzudenken sind.
Das Meer – ein Ort voller Geheimnisse und Schätze. Grosse Teile der Tiefsee sind noch immer unerforscht, obwohl Ozeane fast drei Viertel der Erdoberfläche bedecken. Was liegt näher, als genau dort zu suchen nach neuen, alternativen Substanzen für Lebensmittel, Gesundheit, Schönheit. Schliesslich sprach schon die Antike dem Meer besondere Kräfte zu, liess seine Wogen doch die Göttinnen der Schönheit – die Aphrodite der Griechen und Venus der Römer – gebären.
Was ist Biokompatibilität?
Was die Mythologie andeutet und die Naturheilkunde empfiehlt, was die ersten Badetouristen um 1900 suchten und die Thalasso-Therapie in Kuren verspricht, das bestätigt die moderne Wissenschaft: Meerwasser, Meeresschlick, Meersalz und ganz besonders Meeresalgen halten Körper, Haut, Geist und Seele gesund und schön.
Biokompatibilität nennt sich das, wenn unsere Haut genau wie die Wasserpflanzen ständig gegen Stress wie aggressive UV-Strahlen, Wind, Temperaturschwankungen und Austrocknung durch Wind und Sonne kämpfen muss. Algen haben in Jahrmillionen erfolgreiche Widerstandskräfte entwickelt – und diese marinen Wirkstoffe lassen sich in Kosmetika an unsere Haut vermitteln: Mineralien, Antioxidanzien, Vitamine, essenzielle Fettsäuren und Spurenelemente wie Folsäure, Eisen, Mangan und Magnesium sowie Eiweiss schützen Kollagen- und Elastin-Fasern, die für Geschmeidigkeit und Festigkeit der Haut verantwortlich sind.
Wie aber gelangen diese Wirkstoffe aus den Algen in Kosmetika? Zunächst werden sie im Meer von Hand, per Schiff oder Traktor mit sogenannten «scoubidous», einer Art gigantischer Drehschraube, geerntet. Dann wird der glitschige Tang weiterverarbeitet: Entweder zermahlt man die getrockneten Algen zu feinem Puder oder man gewinnt Extrakte der in Algen wie Nori, Chondrus, Palmaria oder Ulva enthaltenen wasserlöslichen Wirkstoffe durch Osmose. Eine weitere Möglichkeit ist das Pulverisationsverfahren, wobei die Algenpartikel in einem Gasstrom aneinanderreiben, sodass ihre Zellwände zerplatzen. Auch alkoholische Auszüge aus getrockneten Algen lassen sich verarbeiten, als schonender gelten allerdings Mazeration - wobei den zerkleinerten Algen mithilfe eines Lösungsmittels die Wirkstoffe entzogen werden – oder Lyophylisation: Dafür kühlt man die frischen Algen auf Temperaturen von -20°C bis -45°C und entzieht ihnen dann das Wasser.
Algen in der Medizin
Die so gewonnenen Algenwirkstoffe werden zu Cremes, Gels oder Ölen weiterverarbeitet, wobei jede Kosmetikmarke ihre eigenen Schwerpunkte setzt. Immer geht es jedoch darum, das durch Alter, Umweltverschmutzung und Stress gestörte Gleichgewicht des Körpers wiederherzustellen, indem die Haut durch die physiologische Ähnlichkeit von menschlichem Plasma und Meerwasser die Substanzen aufnimmt, die dem Organismus fehlen. So werden die Zellen erneuert und aktiviert, das Gewebe gestrafft, Körper und Seele verjüngt.
Auch neue Medikamente, beispielsweise in der Krebstherapie oder zur Behandlung viraler Infektionen, erhofft sich die Wissenschaft aus dem Meer. Intensiv geforscht wird in diesem Bereich erst seit Kurzem und bislang mit knappen Geldmitteln. Leider ist die Entwicklung vom marinen Wirkstoff bis zum zugelassenen Medikament sehr langwierig und teuer, sodass Ozeane für biomedizinische Studien noch ein Schattendasein führen. Insgesamt – so der Global Ocean Science Report – geben Staaten im Durchschnitt nur 1,7 % ihres Forschungsbudgets für Ozeanwissenschaften aus! «Das Leben im Meer existiert seit etwa 3,7 Milliarden Jahren, dreimal so lange wie das Leben an Land, was zu einer enormen Artenvielfalt führt. Dennoch sind bisher nur 10 % aller marinen Arten beschrieben», bedauert Professorin Julia Sigwart, Biologin am Senckenberg Forschungsinstitut. «Wir wissen weniger über unsere Ozeane als über die Mars-Oberfläche», so die Wissenschaftlerin.
Von den weltweit rund 400 000 Algenarten – die Palette reicht hier von den mit blossem Auge unsichtbaren, einzelligen Kieselalgen bis zum mehrere Dutzend Meter langen See -oder Blasentang – sind höchstens 20 % erforscht, nur rund 500 werden kommerziell genutzt.
Mikroalgen aus dem Labor
Bei Algen denkt man an das Meer, aber Mikroalgen – die zu den ältesten Lebensformen der Erde zählen – sind überall zu finden, lassen sich züchten und könnten als nachwachsende Rohstoffe einen wichtigen Beitrag leisten für nachhaltige Entwicklung. Bei Wissenschaftlern gelten sie jedenfalls als die «Alleskönner der Zukunft», so begeistert sich Dr. Gerd Huschek vom IGV (Brandenburg), wo intensiv mit Mikroalgen geforscht und gearbeitet wird – insbesondere mit «extremophilen» Mikroalgen aus heissen vulkanischen Thermalquellen wie den Geysiren des Yellowstone Nationalparks (USA). Laut Elke Kurth, Leiterin der IGVAbteilung F&E Algenwirkstoffe, sind Mikroalgen eine nahezu unerschöpfliche Quelle für neue innovative Wirkstoffe. Zudem passen sie sich auch lebensfeindlichen Umweltbedingungen an – wie intensiver UV-Strahlung, starken Temperaturschwankungen sowie extremen pH-Werten. «Extremophile Mikroalgen gelten als stresstolerante Überlebenskünstler und erfolgreiche Anpassungsgenies», erläutert Elke Kurth. Und was genau tun sie für schöne gesunde Haut? «Mikroalgen enthalten dermatologisch wertvolle Algenproteine und Algen- Polysaccharide, die nicht nur Feuchtigkeit spenden, sondern auch den Hautstoffwechsel stimulieren, Hautzellen regenerieren und vor freien Radikalen schützen können. Dem Forscherteam der IGV GmbH ist es gelungen, die wertvollen Algen-Inhaltsstoffe in Form von bioaktiven Algenextrakten zu gewinnen. Multifunktional wirksame Algenwirkstoffe bieten optimalen Zellschutz.»
Die Gewinnung dieser bioaktiven Wirkstoffextrakte aus biotechnologisch produzierter Algenbiomasse ist zwar ein nachhaltiger Prozess, kostet allerdings derzeit noch viel Energie und viel Geld. Bislang werden Mikroalgen meist eingefroren, dann aufgetaut und mit Enzymen behandelt, um die stabilen Zellwände aufzubrechen.
Extraktion der Mikroalgen
Das Leibniz-Institut für Plasmaforschung und Technologie (Greifswald) hat ein Verfahren entwickelt für eine umweltschonendere und schnellere Extraktion der Mikroalgen-Biomasse: «Dabei», so Dr. Huschek, «werden die Zellwände über Schockwellen porös gemacht. So erübrigen sich Einfrieren und Behandeln mit Enzymen.» Das spart Zeit und Energie. Sollte sich die Plasmatechnologie als erfolgreich erweisen, könnten diese meist einzelligen, wenige Mikrometer grossen Lebewesen künftig eine grosse Rolle spielen bei Lebensmitteln, Medizin, Kosmetika – also Stoff für die Kosmetik der Zukunft!
Algen gegen Covid 19?
Der natürliche Wirkstoff Carragelose wird aus Rotalgen gewonnen, bildet einen Schutzfilm als physikalische Barriere und verhindert laut Studien, dass Viren die Schleimhaut infizieren, ihre Erbinformation in die Schleimhautzellen einschleusen und sich dort vermehren. Dieser Mechanismus funktioniert bei vielen Erkältungsviren und – neuesten Erkenntnissen zufolge – auch beim Coronavirus SARSCoV- 2. «Ein Carragelose-haltiges Nasenspray bewirkt eine 80 %ige relative Risikoreduktion für eine Infektion mit SARSCoV- 2», so Prof. Dr. Ulrich Schubert, Forscher am Virologischen Institut – Klinische und Molekulare Virologie des Universitätsklinikums Erlangen.
Beate Kuhn-Delestre hat Psycholinguistik und Soziologie studiert. Die freie Journalistin arbeitet für das Fernsehen, für Printmedien, Theaterproduktionen und hat sich auch als Autorin zahlreicher Doku-Filme einen Namen gemacht. Sie schreibt seit 1989 für KOSMETIK international.
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Text: Beate Kuhn-Delestre
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