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Quallen: Anmutige Freischwimmer

Sie sind glibberig und werden von den meisten Menschen als eklig empfunden. Doch Quallen haben weitaus mehr Potenzial als bisher angenommen.

Veröffentlicht am 28.07.2021

Moment mal, werden Sie jetzt vermutlich denken, was bitte schön hat der «Badeschreck» schlechthin in einem Fachmagazin für professionelle Dienstleistungskosmetik zu suchen? Eine ganze Menge! Die Qualle ist bereits seit einigen Jahren in den Fokus von Wissenschaftlern gerückt und erweist sich zunehmend als vielversprechende natürliche Rohstoffquelle für pharmazeutische und kosmetische Wirkstoffe. Zudem zeigt dieser Meeresbewohner in Bezug auf Mikroplastik seine Qualität als Saubermacher. All das war für uns Grund genug, ein bisschen was gegen das schlechte Image der Qualle zu unternehmen und uns genauer mit ihr zu befassen.

 

Die Qualle in Aquarien und als wissenschaftliches Forschungsobjekt

Sie bewegen sich elegant, ja geradezu majestätisch. Und es wirkt beruhigend, wenn man Quallen beobachtet. Das ist unabhängig von einer Bootstour oder einem Bad im Meer z. B. in grossen Schau-Aquarien möglich. Eines davon ist z. B. das See Jelly Spectacular im Oceanpark in Hongkong. In grossen kreisrunden Behältern werden dort die Quallen als Attraktion ausgestellt, begleitet von Lichtshows, Musik und Multimedia-Effekten. In der Schweiz werden im Vivarium im Zoo Basel Quallen gezüchtet. Seit 2018 läuft zudem ein vielbeachtetes Forschungsprojekt zur Nutzung von Quallenblüten, das von der Europäischen Union im Rahmenprogramm Horizont 2020 gefördert wird. Unter der Leitung des GEOMAR-Helmholtz- Zentrum für Ozeanforschung Kiel arbeiten hier Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Norwegen, Portugal, Slowenien, Israel, Italien, Frankreich und China zusammen. Ins Leben gerufen wurde Go Jelly von der Meeresbiologin Dr. Jamileh Javidpour.

 

Etwas biologisches Grundwissen

Nahezu jeder von uns hatte schon mal ein Erlebnis mit einem dieser gallertartigen Meeresbewohnern – so z. B. mit der harmlosen Ohrenqualle in der Nord- oder Ostsee. Wenn man von Quallen redet, sollte man diese Nesseltiere nicht alle «in einen Topf» werfen. Immerhin sind von den Medusen – so lautet die wissenschaftliche Bezeichnung – über 2 000 sehr diverse Arten bekannt.

Der Aufbau einer Qualle ist simpel, sie besteht aus einer Protein- und einer Wassermatrix. Zudem hat sie weder Knochen noch ein Gehirn und empfindet keinen Schmerz. Allerdings verfügt die Meduse über ein Nervennetzwerk, das sie zur Fortbewegung braucht. Ähnlich wie ein Gleichgewichtsorgan hilft es der Qualle auch dabei, ihre Lage im Wasser zu erkennen und sich z. B. umzudrehen. Und all das funktioniert sogar, wenn Teile ihres Schirms verletzt sind.

Quallen sind in allen Weltmeeren unterwegs. Dabei zählen z. B. die Ohrenquallen zu den Kosmopoliten, die man fast überall finden kann. Dann gibt es Arten, die ausschliesslich lokal vorkommen, weil sie entweder nur in wärmerem oder kaltem Meerwasser überleben können. Selbst Süsswasserquallen existieren. Diese tummeln sich sogar in heimischen Binnengewässern – etwa in einigen bayerischen Seen. Folglich erweisen sich diese mehr als 500 Millionen Jahre alten «Freischwimmer» als ziemlich anpassungsfähige Allrounder. Genau genommen handelt es sich bei der Qualle um einen Zustand, denn dieser Begriff steht für ein Stadium im Lebenszyklus von bestimmten Arten von Nesseltieren (Cnidaria). Die individuelle Entwicklung beginnt – verkürzt gesagt – mit einem Polypen, der sich in der Regel festsetzt und sich zu einer adulten Meduse weiterentwickelt. Diese wird dann von der Basis abgestossen und schwimmt in bekannter Manier mittels Rückstossprinzip frei im Meer. Dabei sind Quallen keine Einzelgänger. Sie bewegen sich in Schwärmen – zunehmend auch in sehr umfangreichen. Dieses Phänomen wird als Quallenblüte bezeichnet, begünstigt wird das u. a. durch die zunehmende Erwärmung der Ozeane, die Überfischung der Meere und deren sinkenden Sauerstoffgehalt. Eine solche Massenvermehrung ist nicht unproblematisch, denn die Quallenschwärme vernichten Fischfarmen und können sogar die Kühlsysteme der küstennahen Kernkraftwerke blockieren. Angesichts dieser Szenarien fühlt man sich ein Stück weit an den Roman «Der Schwarm» von Frank Schätzing erinnert.

 

Im Schleim liegt die Kraft

Charakteristisch für die Medusen ist auch deren Schleim. Sie produzieren ihn in unterschiedlichen Situationen, z.B. um ihr Mikrobiom neu aufzustellen, um sich zu reinigen oder weil sie gestresst sind. Ausserdem hilft ihnen der Schleim dabei, ihren Nachwuchs auszusetzen. Doch diese organische Absonderung hat noch weitaus mehr Potenzial.

So haben die Wissenschaftler von Go Jelly herausgefunden, dass der Quallen-Schleim Mikroplastik binden kann. Im Hinblick auf die zunehmende Plastikvermüllung des sensiblen Ökosystems Meer ist das eine perspektivisch vielversprechende Erkenntnis. Zudem ist es denkbar, dass der Schleim z. B. als Bio-Filter in Kläranlagen zur Reinigung des Abwassers zum Einsatz kommen könnte.

Quallen liefern aber noch einen anderen wertvollen Rohstoff – Kollagen. Forscher der Universität Lübeck haben vor einigen Jahren bereits entdeckt, dass dieses Strukturprotein sehr gut zur Heilung von Knorpelschäden eingesetzt werden kann. Es erweist sich sogar als wesentlich effektiver als vergleichbare Substanzen auf der Basis von Rind und Schwein.

 

Mariner «Schönmacher»

Auch die Kosmetikindustrie kann von dieser natürlichen Ressource profitieren, denn Quallen liefern ein hochwertiges Kollagen, das sich als Wirkstoff für Pflegeprodukte eignet. Bereits seit 2011 setzt das Unternehmen Oceanwell, das zu den Partnern des Go Jelly-Projektes gehört, marines Kollagen zur Unterstützung der reifen Haut ein. Als Inhaltsstoff ist das «Quollagen» in der eigenen Pflegeserie Pro- Age Line OceanCollagen enthalten.

Allerdings taugt nicht jede Quallenart als Lieferant für diesen feuchtigkeitsbindenden «Schönmacher». Die Firma Oceanwell gewinnt ihr Bio-Kollagen z. B. aus der asiatischen Wurzelmundqualle. Gemeinsam mit dem Go Jelly-Team fand das Unternehmen zudem heraus, dass sich Kronen- und Lungenquallen am besten als Kollagen-Quelle eignen – Arten, die massenhaft in den Fjorden Norwegens und in der Adria vorkommen.

Im Hinblick auf eine derartige Vermehrung stellt sich die Frage, ob man die Quallen nicht einfach aus dem Meer abschöpfen kann. Immerhin scheinen diese Vorkommen unbegrenzt zu sein. Oder sollte man sie doch besser industriell züchten, wie es bereits die Chinesen in grossen Meeresarmen tun? Die Quallenzucht gilt als sehr anspruchsvoll, ausserdem ist auch noch nicht klar, welche Konsequenzen Aquakulturen dieses Umfangs haben könnten. Und was ist mit dem Wildfang? Dieser ist wirklich nur dann nachhaltig, wenn man der Natur lediglich so viel Biomasse entnimmt, wie sie auch wieder nachbilden kann. Da aber noch erforscht wird, welche Faktoren Quallenblüten überhaupt begünstigen, kann man dieses Verhältnis noch nicht ausloten. Gegenwärtig ist der Wildfang mehr oder weniger Glückssache, denn die Herausforderung besteht darin, Quallenblüten in den Meeren für die Ernte auszumachen. Von der NASA und ESA gibt es satellitengestützte Aufnahmeverfahren, die ein Algenmonitoring aus dem Weltall ermöglichen. Allerdings ist das nicht auf die Überwachung von Quallenpopulationen übertragbar. Es gab Versuche, die Populationsdynamik der Qualle mittels Satellitenmonitoring abzubilden, erzählt Dr. Jamileh Javidpour. Dabei wurden jedoch keine guten Ergebnisse erzielt, weil die Quallen im Gegensatz zu Algen transparent sind, d. h. sie reflektieren nicht oder kaum. Im Grunde braucht man dafür absolut perfekte Bedingungen, erläutert die Meeresbiologin. Das Meer muss ganz ruhig sein, um überhaupt eine Reflektion wahrnehmen zu können. Sobald auch nur ein bisschen Wind aufkommt, kann das Monitoring nicht mehr funktionieren, weil die Quallenschwärme weggetrieben werden. Somit ist weder eine Vorhersage oder Schlussfolgerung darüber möglich, wo Quallenschwärme auftreten, um sie dann zur industriellen Verarbeitung abschöpfen zu können. Auch eine Suche per Radar wie bei Fischschwärmen ist nicht möglich, da Quallen dazu den Schall nicht reflektieren. Es hat zwar entsprechende Versuche mit Medusen gegeben, die einen festen Körper haben, aber selbst da war eine Suche per Radar nur sehr eingeschränkt möglich, erklärt Javidpour. Quallenpopulationen lassen sich offenbar am besten mit Kameras überwachen. «Wir befassen uns gerade mit dem Einsatz von Drohnen, die dicht über der Meeresoberfläche fliegen, um verwertbares Bildmaterial zu erstellen», berichtet die Wissenschaftlerin. «Und da haben wir tatsächlich schon sieben Zentimeter grosse Ohrenquallen sehen können. Das ist durchaus vielversprechend.»

 

Regenerative Fähigkeiten

Was gibt es noch an Besonderheiten bei den Quallen? Es soll Arten geben, die sich selbst regenerieren und somit quasi eine Verjüngungskur in Eigenregie durchführen können. Wäre das nicht verlockend, wenn man daraus Erkenntnisse gewinnen könnte, um den menschlichen Alterungsprozess oder die Zellregeneration zu beeinflussen? Die Forscher von Go Jelly haben eine invasive Rippenqualle halbiert und beobachtet, wie diese sich selbst repariert. Binnen Sekunden, so Javidpour, schloss diese ihre Wunden und innerhalb einer Woche regenerierte sie sich komplett. Noch eine weitere Eigenschaft konnte beobachtet werden: Wenn die Meduse älter wird, sinkt sie auf den Meeresboden und segmentiert sich in kleine Polypen, die dann weiterleben und aufwachsen. Sie kann quasi wiedergeboren werden – wie eine Art Phönix aus der Asche.

 

Die unsterbliche Qualle – ein vielversprechender Mechanismus?

Bezüglich dieser regenerativen Eigenschaft wird bereits geforscht – allerdings unter isolierten Bedingungen, weiss die Quallen-Expertin. Und diese Forschung wird offenbar so erfolgreich vorangetrieben, dass Javidpour davon überzeugt ist, dass derjenige, der diesen bemerkenswerten Mechanismus entschlüsselt, den Nobelpreis erhalten wird.

Die Welt der Quallen ist nicht nur faszinierend, sondern auch unglaublich vielfältig – und es gibt noch vieles zu erforschen. Dazu zählt u. a. die Tiefsee, die für uns «Landratten » eigentlich noch eine nahezu unbekannte Welt ist. Meeresforscher haben aber bereits entdeckt, dass in dieser unwirtlichen Umgebung Fische leben, die nicht nur eine wirklich aussergewöhnliche Physiognomie aufweisen, sondern sich dem dort vorherrschenden Lichtmangel sehr gut angepasst haben. «Da unten gibt es auch Quallen, die wir noch nicht erforscht haben», betont die Biologin Javidpour. «Und es wird sicher noch lange dauern, bis sich uns diese Möglichkeit bietet.»

Quallen werden z. B. mit Sesamöl oder mit Soja bzw. Chili-Öl angerichtet. Es gibt aber auch Gerichte mit Knoblauch, Koriander oder Weisskohl

Quallen werden z. B. mit Sesamöl oder mit Soja bzw. Chili-Öl angerichtet. Es gibt aber auch Gerichte mit Knoblauch, Koriander oder Weisskohl

Quallen als Lebensmittel: Sind Sie offen für eine neue kulinarische Inspiration?

In den Küchen Asiens gelten ungiftige Quallen als Delikatesse und werden als Salat, Sushi oder wie Nudeln serviert. Dabei ist es wichtig, die Quallen vor der Zubereitung gründlich zu wässern. Die Nesseltiere bestehen zum grössten Teil aus Wasser und enthalten u. a. Proteine und Mineralstoffe wie Magnesium und Kalzium. Sie sind sowohl fettfrei als auch kalorienarm und somit überaus figurfreundlich. Schmecken sollen Quallen neutral bis salzig und zudem überraschend bissfest sein. Getrocknet weisen sie eine knackige Konsistenz auf, die sie z. B. in China zu einem beliebten Snack machen.

Engagierte Quallenforscherin

Dr. Jamileh Javidpour ist Initiatorin und Koordinatorin des von der EU geförderten Projektes «Go Jelly», das unter der Leitung des GEOMAR-Helmholtz- Zentrum für Ozeanforschung in Kiel durchgeführt wird. Die Meeresbiologin ist überzeugt davon, dass Quallen eine wichtige Rolle im Ökosystem Meer zukommt.

www.gojelly.eu

 

 

Die Qualle im Fokus der Forschung

Seit mehr als 15 Jahren widmen Sie sich der Erforschung von Quallen. Wie kam es dazu?

Als ich damals meine Bachelor- Arbeit schrieb, wurde im Kaspischen Meer eine invasive Rippenqualle entdeckt, die einen regelrechten Hype auslöste. Gemeldet wurde u. a., dass eine Killerqualle käme, die alle Fische wegfressen würde. Ich recherchierte und stellte fest, dass da über ganz einfache Tiere berichtet wurde, die nicht wie Monster aussehen, faszinierend schön und älter als die Dinosaurier sind. Meine Magisterarbeit schrieb ich anschliessend noch über Fische, doch dann entschied ich mich, die Quallen-Forschung anzukurbeln und promovierte schliesslich darüber in Deutschland.

 

Warum haben Sie das europäische Forschungsprojekt Go Jelly initiiert?

Wir als Forscher sind an der Biologie und Ökologie der Quallen interessiert und möchten wissen, wie diese Tiere «ticken». Als in einigen Gebieten immer häufiger Quallenblüten auftraten, wollten wir herausfinden, was mit dieser grossen Biomasse alles möglich ist. Uns stellte sich die Frage, was man aus der Qualle gewinnen kann, welche Industriezweige das interessieren könnte und ob man die Quallen nachhaltig nutzen kann. Das war der Grund, warum Go Jelly zustandekam.

 

Mit was beschäftigen Sie und Ihre internationalen Forscherkollegen sich z. B. im Rahmen von Go Jelly?

Es ist ein sehr vielschichtiges Projekt, das sich zum einen mit den Rohstoffen befasst. Zum anderen wollen wir erforschen, welche Arten von Quallen es in Europa gibt, ob diese nachhaltig verwendet werden können und ob wir überhaupt genug wissen, um an bestimmte Märkte und Produkte zu denken. Ausserdem wollen wir erfahren, wie und wo eine Quallenblüte entsteht. Alles werden wir in den vier Jahren, auf die das Projekt ausgelegt ist, sicherlich nicht schaffen. Aber es ist ein erster Schritt, um die Ökologie der Qualle überhaupt zu verstehen.

 

Quallen enthalten ein Kollagen, das auch für Kosmetikhersteller interessant ist. Wie bewerten Sie dessen Qualität?

Quallen produzieren tatsächlich ein ebenso hochwertiges Kollagen wie wir es bereits verwenden – und das als einfache Lebewesen. Dessen Produktion ist vergleichsweise kostengünstig und umweltfreundlich.

 

Haben Sie selbst schon «Quallenkosmetik » verwendet?

Ja, Oceanwell zählt zu unseren Partnern, da habe ich die Möglichkeit, die Produkte auszuprobieren. Es handelt sich dabei um Naturkosmetik, was mir sehr entgegenkommt, weil ich diese aufgrund ihrer Nachhaltigkeit ohnehin bevorzuge. Ich empfinde die leichte Textur der Pflegeprodukte als sehr angenehm. Zudem wird die Haut gut mit Feuchtigkeit versorgt und geglättet.

 

 

 

Text: Dr. Anja Riek

Fotos: stock.adobe.com (2), Dr. Jamileh Javidpour  (1)

 

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